Zukunft ist keine Vergangenheit mit Bonusfeatures

Alle reden von der Zeit nach der Corona-Pandemie. Wie wird unser Leben dann sein? Sozialer, wärmer, entschleunigter oder überwachter, isolierter, unfreier? Die Prophezeiung hat Hochkonjunktur. Und macht dabei immer wieder die gleichen Denkfehler. Von Peter Breuer

Ziemlich genau vor 19 Jahren, im März 2001, sagte der Zukunftsforscher Matthias Horx in der WELT dem damals jungen und nicht mal schulpflichtigen Internet ein schnelles Ende voraus. Ein Massenmedium werde es nicht: „weil es in seiner Seele keines ist“. In der Zwischenzeit hörte man vom Internet viel, von Horx weniger, aber Zukunftsforscher teilen leider ihr größtes Problem mit den Meteorologen: Was heute viel Wind macht, sieht morgen unter Umständen wieder ganz anders aus.

Im März 2020 und wieder in der WELT, formuliert es Horx zunächst vorsichtiger: „Ich mache keine Pro-gnosen, sondern Re-gnosen.“ Er sehe die Welt angesichts der Corona-Krise und beobachte, wie Menschen reagieren, statt zu prognostizieren, wie die Situation die Welt verändert. Nach diesem Vorsatz schweift sein Blick dann doch weit in die Zukunft. Wer einmal erfolgreich aus der Hand gelesen hat, schult nicht von heute auf morgen zum Fußpfleger um.

Horx teilt seine Sicht mit vielen anderen Optimisten, die aktuell in Feuilletons und Essays die Welt nach der Krise beschreiben: Mit einem menschlicheren, weniger krank machenden Kommunikationsverhalten. Mit engeren Bindungen, bedeutungslosen Populisten und Fußballspielen ohne Hass. Oder mit einem neuen Verständnis für die Chancen der Digitalisierung, an der neben ihren technologiebedingten Geschwindigkeitsaspekten plötzlich auch ihre Keim- und Virenfreiheit geschätzt wird.

Blick in einen beschlagenen Spiegel

Das ist angesichts einer galoppierenden Pandemie wohlig und schön und man möchte es gerne hören. Es ist angenehmer als die Bilder aus Notlazaretten, beruhigender als die Vorstellung, dass in New Yorker Parks Gräber ausgehoben werden.

Tatsächlich ist die Aussicht auf die Zeit nach der Pandemie jedoch kein Blick in eine klare Kristallkugel, sondern in einen sehr beschlagenen Spiegel: In einer Zeit der Komplettvernetzung, in der ein unscheinbarer Erdbeer-Yoghurt für 79 Cent ein logististisches paneuropäisches Gesamtkunstwerk ist, kann es weder sichere Pro- noch Re-gnosen geben. Mag sein, dass das Rohprodukt Milch von norddeutschen Kühen stammt – aber die Herkunft von Früchten, Zucker, Emulgatoren, Farbstoffen, Aromen, Kunststoffbehälter, Aludeckel und Bedruckung folgt einer raffinierten Lieferketten-Choreographie. Diese Vernetzung innerhalb nur eines Produkts ist ein möglicherweise überdenkenswerter Teil eines effizienzgetriebenen Systems, aber gleichzeitig sind auch viele scheinbar unterschiedliche Dinge mit unsichtbaren Fäden verbunden.

Die Social-Media-Influenzer etwa, die heute applausheischend vorrechnen, wie viele Kleingewerbebetriebe mit den Staatshilfen für Großkaufhäuser gerettet werden können, liegen daneben: In den Innenstädten wird in der Zeit nach Corona mehr denn je jedes vermietete Ladenlokal wichtig sein. Die schmale Imbissbude zwei Blocks neben dem Flagshipstore würde unter einer Schließung des Publikumsmagneten auf Dauer stärker leiden als unter der vermuteten oder tatsächlichen ungerechten Verteilung von Fördergeldern. Einfache Lösungen klingen oft bestechend, sind aber in Wirklichkeit vor allem: Einfach.

Weder Dystopien noch Romantizismus

Wie irrational das Denken durch die Krise wird, zeigt sich an Toilettenpapier und Börse: Der DAX 30 stürzte im März 2020 blitzschnell von seinem Allzeithoch um 5.300 Punkte. Das tat er zu einer Zeit, als nicht absehbar war, wie hart uns die Pandemie treffen würde und er stieg zwei Wochen später wieder um fast die Hälfte dieses Wertes, obwohl sich die Lage eher negativ als positiv entwickelte. Die Unruhe der Händler ist verständlich, aber eben auch nicht an Unternehmenserfolge oder -misserfolge gekoppelt. Genauso wenig, wie sich die neue Leitwährung Toilettenpapier an realen Verbrauchswerten orientieren würde. Das Denken ist spekulativ und eventgetrieben: Gekauft und verkauft wird in gemeinsamen Bewegungen und es hat weder mit Bedarf oder Realität zu tun, nur mit den atavistischen Triebfedern Angst und Sicherheitsdenken.

Wer also die Zeit nach der Pandemie vorausdenkt, darf weder in Dystopien noch in Romantizismus verfallen: In uns angelegte menschliche Eigenschaften werden zwangsläufig weiter das Handeln prägen. Solidarität und Gemeinsinn sind zwar wünschenswert, aber sie sind gelernte Werte und eher einer elaborierten und individuellen Prägung als der menschlichen Basisausstattung zuzuordnen.

Also ist das, was nun kommt, eben nicht mit den Mustern einer verklärten Vergangenheit oder einer materiell und ideell etwas besser ausgestatteten Gegenwart zu denken: Vielleicht ist es – ein gruselig schöner Gedanke – einfach ganz anders. Ein unbestimmter Raum, in dem Dinge möglich sind, die wir jetzt noch nicht denken können. Aber wir können es üben, indem wir uns von Floskeln, Ritualen und rückversichernden alten Mustern lösen.


 Zum Autor: Peter Breuer ist freier Werbe- und Konzeptionstexter. twitter.com/peterbreuer

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